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Wenn bei einem Unfall eine ätzende Substanz ins Auge gelangt, zählt buchstäblich jede Sekunde. Das Auge muss möglichst schnell und über sehr lange Zeit gespült werden, am besten mit einer gepufferten Lösung. Am kritischsten sind starke alkalische Substanzen wie Natronlauge (auch Ätzsoda), aber auch eine Reihe von Säuren können das Auge schwer schädigen.
Anders Behndig, Professor und Oberarzt an der Universität Umeå, ist auf den vorderen Teil des Auges spezialisiert. In seiner Zeit als praktizierender Augenarzt hat er eine ganze Reihe von Patienten behandelt, die ätzende Stoffe in die Augen bekommen haben – entweder bei der Arbeit oder zu Hause. Eines war dabei ganz deutlich: Diejenigen, die das Auge schnell spülen konnten, hatten die besten Heilungsaussichten.
– Wenn ein ätzender Stoff ins Auge gelangt, ist es am allerwichtigsten, sofort mit der Spülung zu beginnen. Nach der Verletzung zählt wirklich jede Sekunde. Außerdem ist es wichtig, über lange Zeit zu spülen. Diese beiden Faktoren sind entscheidend dafür, ob sich Auge und Augenlicht retten lassen.
Mit 7,4 hat das Auge einen neutralen pH-Wert. Bereits bei einem pH-Wert unter 7,2 oder über 7,8 reagiert das Auge mit einer als unangenehm wahrgenommenen Reizung. Liegt der pH-Wert unter 4 oder über 10, kommt es zu schweren Verätzungen.
– Am gefährlichsten sind ätzende Stoffe, vor allem alkalische Substanzen mit einem pH-Wert über 7,8. Zu Hause sind diese Stoffe in der Regel im Putzschrank zu finden. Beispielsweise in Form von Bleichmittel, auch bekannt als Ätznatron, und in einigen Maschinengeschirrspülmitteln. „Am Arbeitsplatz sind die häufigsten ätzenden Stoffe Basen und Säuren wie Natronlauge, Natriumkarbonat und Ammoniak“, erklärt Anders Behndig und fügt hinzu, dass einige Säuren wie Salzsäure, Salpetersäure und Schwefelsäure ebenfalls gefährlich für die Augen sind.
Die Spüldauer hängt von mehreren Faktoren ab: von der Art, der Menge und der Konzentration des ätzenden Stoffes sowie von der Zeit, die zwischen dem Auftreten der Verätzung und dem Beginn der Spülung verstrichen ist. Auch welche Art von Spüllösung verwendet wird, ist entscheidend.
– Bei schnellem Spülbeginn und langer Spüldauer, am besten 15 Minuten oder länger, hat der Körper größere Chancen, den Schaden zu reparieren. Je länger die Spüldauer, desto besser. Besteht der Verdacht einer ernsthaften Verletzung, sollte die Spülung so lange fortgesetzt werden, bis der Verletzte in ärztlicher Obhut ist, so Anders Behndig.
Dabei ist es entscheidend, mit einem reichlichem Flüssigkeitsstrahl und mit einer Geschwindigkeit zu spülen, die die Konzentration der ätzenden Substanz schnell verringern, sie verdünnen und ausschwemmen kann.
– Die Menge an Flüssigkeit, mit der das Auge gespült wird, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell ein ätzender Stoff verdünnt wird und sich der pH-Wert normalisiert. Der Flüssigkeitsstrahl ist auch wichtig, um die ätzende Substanz rein mechanisch aus dem Auge zu entfernen, insbesondere, wenn die Flüssigkeit feste Partikel enthält, was nicht selten der Fall ist. Ein so ergiebiger Flüssigkeitsstrahl lässt sich beispielsweise nicht mit Sprühflaschen oder Ähnlichem erreichen. Es ist ein stärkerer kontinuierlicher Flüssigkeitsstrom erforderlich, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, erklärt Anders Behndig.
Ideal ist die Verwendung einer sogenannten gepufferten Spüllösung. Die Lösung normalisiert den pH-Wert des Auges schneller als Wasser oder Kochsalzlösung.
– Wenn eine stark ätzende alkalische Substanz ins Auge gelangt, reicht es nicht aus, das Auge mit Wasser oder Kochsalzlösung zu spülen, da die Spülung so nur rein mechanisch erfolgt. Eine gepufferte Lösung neutralisiert den pH-Wert, sodass er sich wieder dem pH-Wert des Auges annähert, erklärt Anders Behndig.
– Das lässt sich nicht auf Anhieb sagen. Es kann Tage, manchmal Wochen dauern, bis sich zeigt, wie stark das Auge geschädigt ist. Das liegt u. a. daran, dass der Heilungsprozess bei einer Verletzung, die durch eine alkalische Substanz verursacht wurde, in zwei Phasen verläuft: Das Auge ist erst einmal entzündet und gerötet, nach einigen Tagen kann es sich beruhigen und besser aussehen, ehe es wieder zu einer deutlichen Verschlechterung kommt, erklärt Anders Behndig.
Chemische Augenverletzungen führen zur Zerstörung von Gewebe im Auge, ganz oder teilweise. Die Gründe sind vielfältig: von einem extrem hohen pH-Wert bis hin zu Eigenschaften, die zu Oxidationen oder zum Schrumpfen von Zellen führen.
– Die schlimmsten Schäden treten nach Unfällen mit alkalischen Substanzen auf, da diese tief eindringen und die Stammzellen des Auges schädigen können. Hierdurch wird die Hornhaut trübe. Auch die Bindehaut des Auges kann beschädigt werden, sodass sie mit dem Augenlid verklebt. Diese Verletzungen lassen sich nicht mit einer Transplantation beheben. Glücklicherweise sitzen diese Stammzellen so tief, dass es eventuell gelingt, die gefährliche Substanz auszuspülen, bevor sie die Stammzellen schädigt. Dann kann das Auge sich wieder erholen. Alles hängt davon ab, wie schnell mit dem Spülen begonnen wird!
Text: Karin Cedronius